Historie : Reiselust im Viktoriawagen: Die eindrucksvolle Fernfahrt des Baron von Liebieg
Fernreisen mit dem Auto sind heute kein Hindernis mehr. Anders sah es noch vor 125 Jahren aus: Weder die vorhandene Technologie noch die Infrastruktur boten damals die besten Voraussetzungen für Langstreckenfahrt mit dem Automobil. In einem waghalsigen Unterfangen schöpft im Jahr 1894 ein Mann mit seinem Kollegen dennoch alle damals zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten aus. Sieben Tage dauert die Fernfahrt des Baron von Liebieg in einem Benz Victoria - ein Fahrzeug, das optisch mehr einer Kutsche gleicht als einem uns vertrauten Automobil. Liebiegs "Victoria" trägt die Fabriknummer 76 und zu eben diesem Wagen gibt es eine besondere Geschichte zu erzählen.
Im jungen Alter von 21 Jahren kreuzt der Fabrikantensohn Theodor von Liebieg aus Böhmen im Mannheimer Unternehmen Benz auf. Sofort soll er Firmenchef Carl Benz mit neugierigen Fragen über das Fahrzeug gelöchert haben und bat ihn sogleich um eine Probefahrt. Dabei handelt es sich übrigens um das erste Benz-Automobil mit Achsschenkellenkung, bei der jedes Vorderrad einer Achse für sich gedreht wird. Der Automobilpionier Benz gewährt ihm eine kurze Spritztour - der Überlieferung nach kurz vor der Ankunft des Großherzogs von Baden im Oktober 1893. Gleich im Anschluss bestellt von Liebieg ein Fahrzeug des neuen Typs und leistet eine Anzahlung über 1.500 Mark - nahezu ein Drittel des Gesamtpreises. Zufrieden reist er zurück ins böhmische Reichenberg (heute Liberec in Tschechien).
Das Fahrzeug wurde dann im nächsten Frühjahr mit der Eisenbahn nach Böhmen gebracht und von Benz-Fahrmeister Thum an den Kunden ausgeliefert. Fahrten waren mit der Victoria eher gemächlicher Natur: Angetrieben wird das Auto von einem 2,2 kW (3 PS) starken Einzylindermotor. Doch der Baron hatte sich ein großes Ziel gesetzt: Mit diesem Fahrzeug will er im Sommer 1894 auf eigener Achse Carl Benz besuchen und von Mannheim aus weiter an die Mosel fahren, zum Wohnort seiner Mutter in Gondorf.
Eine solche Reise sei „schon seit Gymnasiastentagen mein Ideal gewesen“, erinnert er sich in der illustrierten Chronik der Fernreise. Nach Probefahrten sind von Liebieg und sein Freund, der Arzt Franz Stransky, zuversichtlich: Das Automobil wird trotz schlechter Straßen, der schwierigen Versorgung mit Treibstoff und dem hohen Verbrauch an Kühlwasser die Fernfahrt zuverlässig bewältigen.
Kein Schlaf bis Mannheim
Frühmorgens am 16. Juli 1894 geht es los, über Bautzen und Dresden erreichen die beiden Reisenden Waldheim. Am nächsten Tag geht die Etappe bis Eisenberg, am 18. Juli über Jena, Weimar, Erfurt und Gotha bis nach Eisenach im Westen Thürigens. Darauf folgt eine Fahrt über zwei Tage ohne Übernachtung, bei der unter anderem Fulda, Offenbach, Frankfurt und Darmstadt durchquert werden. Das Ziel nach 26 Fahrstunden ist Mannheim, wo man Carl Benz besucht.
An den zwei weiteren Tagen geht es den Rhein entlang nach Norden und schließlich am 22. Juli die Mosel hinauf nach Gondorf. Damit ist das Abenteuer geglückt. Für die beachtliche 939 Kilometer lange Strecke brauchen von Liebieg und Stransky insgesamt 69 Stunden. Das ergibt ein Durchschnittstempo von 13,6 Stundenkilometern, angesichts der schlechten Straßen und lediglich drei Pferdestärken ein sehr respektables Ergebnis. Getankt wurde damals an Apotheken oder Drogerien.
Erheblicher Bedarf an Kühlwasser
Schon Bertha Benz hat sich als begeisterte Autofahrerin auf ihrer Fahrt im August 1888 von Mannheim nach Pforzheim in einer Apotheke mit Ligroin als Treibstoff versorgt. Der Benz Victoria verbraucht etwa 21 Liter Benzin auf 100 Kilometer. Erheblich höher ist der Bedarf an Kühlwasser, weil der Motor mit einer offenen Verdampfungskühlung ausgestattet ist, die auf 100 Kilometer bis zu 150 Liter Wasser benötigt. Erst Erfindungen der Folgejahre, allen voran die von Wilhelm Maybach bei der Daimler-Motoren-Gesellschaft erdachten Kühler, senken den Kühlwasserbedarf erheblich.
In Gondorf bleibt Liebieg vier Wochen lang und unternimmt in dieser Zeit Ausfahrten bis nach Frankreich. Im August tritt er mit Stransky die Rückreise an. Diesmal macht das Duo in Mannheim länger Station, um den Victoria bei Benz & Cie. einer gründlichen Werkswartung unterziehen zu lassen. Bei der Abholung ist Liebieg begeistert: „Herr Benz hatte sein Versprechen pünktlich gehalten und fix und fertig, kaum zum Wiedererkennen, fanden wir unseren geliebten Wagen.“ Familie Benz begleitet den Baron und seinen Freund bei der Abfahrt bis nach Gernsheim. Insgesamt absolviert der Benz Victoria auf dieser Fernreise rund 2.500 Kilometer bis zur Rückkehr nach Reichenberg.
Ein früher Markenbotschafter
Carl Benz weiß die Begeisterung und Leidenschaft des jungen Barons von Liebieg zu schätzen. Er erinnert sich fast 30 Jahre später so an diesen wichtigen Kunden: „Mein Viktoriawagen und der Baron - das waren Freunde, die einander verstanden und aufeinander abgestimmt waren wie zwei Stimmgabeln. Auf großen und weiten Reisen haben diese beiden Freunde ihren Viktoriaruf hinausgeknattert in die aufhorchende Welt und trugen sehr viel zur Popularisierung des Kraftwagens bei.“
Theodor von Liebieg unternimmt 1895 eine zweite Fernreise mit dem Victoria. Er tritt für Benz auch bei Automobilwettfahrten an. Durch diese Aktivitäten wird er zum Botschafter für das Automobil. Unter anderem gewinnt er 1899 beim ersten Österreichischen Internationalen Rennen in Wien den ersten Preis des Wiener Automobilclubs auf einem Benz 8 PS. Später ist Liebieg als Teilhaber der Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft selbst Automobilproduzent: Aus dem Unternehmen geht 1923 nach einer Fusion mit Ringhoffer die Marke Tatra hervor. Doch Liebieg bleibt als Kunde dem Unternehmen Benz & Cie. treu - auch nach dem Zusammenschluss mit der Daimler-Motoren-Gesellschaft: Das letzte Automobil des 1939 verstorbenen Industriellen ist ein exklusives Mercedes-Benz 540 K Cabriolet A.
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